RUSSISCHE REVOLUTION

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Petersburger Blutsonntag Januar 1905: Militär feuert in die Menge, die dem Zaren eine Petiton überbringen möchte.

Hochstapelei und Bittschrift, Rebellion und Revolution

Kleine und grosse Bauernrevolten und als Reaktion der Behörden Repressions-
und Integrationsmassnahmen gab es in Russland durch die Jahrhunderte immer wieder.
1917 war eine Mehrheit der Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Politiker*innen und Armeean-gehörigen bereit für eine umfassende Revolution.

Unter der Herrschaft von Katharina II. am Ende des 18. Jahrhunderts war die soziale und rechtliche Lage besonders drastisch. Die Zarin verbot den Bauern Klage zu führen, erlaubte den Adligen Zwangsarbeit, Deportationen sowie Verpachtung und Verkauf von «Fabrikbauern» an Industrieunternehmen. Sie verschenkte die Rekordzahl von einer Million «Staatsbauern» an ihre Günstlinge, die Situation der betroffenen Bauern ver-schlechterte sich dadurch wesentlich. Unter ihrer Herrschaft gab es unzählige und besonders heftige Revolten.
Für unser heutiges Empfinden mutet das Wirken des legendären Rebells des Bauernkriegs 1773 bis 75 operettenhaft an, kann aber auch zustimmende Emotionen wecken: Der Donkosake Jemeljan Iwanowitsch Pugatschow gab sich als Zar Peter III. aus, der durch ein Wunder den Mordversuch seiner Gattin Katharina II. überlebt habe: «Sie sandten Mörder aus, aber Gott rettete mich». In seinem Ukas gegen «die adligen Ver-brecher und bestechlichen Richter» von 1774 verfügte er die Abschaffung von Leibeigenschaft, Deportation, Zwangsrekrutierung und der zahlreichen Steuern, Lasten und Schmiergelder. Im Januar 1775 wurde er hingerichtet.

Folter, Prügelstrafe und Deportation
Zwar wurde 1861 die Leibeigenschaft theoretisch abgeschafft, sie bestand aber faktisch weiter. Verschuldung, Steuererhöhungen und Missernten setzten den Bauern zu. Folter und Prügelstrafe waren bis ins 20. Jahr-hundert hinein eine Selbstverständlichkeit. Tausende Bauern wurden permanent nach Sibirien zu Zwangs-arbeit deportiert. Unter Nikolai I. 1825 bis 55 gab es 556 Bauernaufstände, davon allein 54 im Revolutionsjahr 1848. Adlige klagten überheblich über die Unfähigkeit zu Vernunft und Verstand der in Grobheit und Unbildung geborenen Bauern und deren Hass und Misstrauen gegenüber dem Adel.

Der Bau des Eisenbahnnetzes
Die Industrialisierung Russlands kam in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Gang, später als im übrigen Europa. Richtig zur Sache ging es ab 1890 mit dem Bau des Eisenbahnnetzes, der riesige Mengen an Stahl, Metall, Steinkohle und Erdöl benötigte. Zahlreiche Arbeitsplätze entstanden, in Industriekrisen lebten Hunderttausende in Arbeitslosigkeit und Elend. Die Wohnungsverhältnisse waren schlecht, die ärztliche Ver-sorgung war teuer. Betrug bei den Lohnabrechnungen und Zwang zum Einkauf in den Fabrikläden zu über-höhten Preisen waren Standard. Statt Arbeitsschutz gab es Verstümmelungen und tödliche Unfälle. Streiks kamen häufig vor, während der frühen Streiks zertrümmerten ArbeiterInnen Maschinen, Fenster, Fabrikläden und Kontore. Arbeiterbünde entstanden, die versuchten, die Interessen der ProletarierInnen wahrzunehmen, wurden aber bedrängt und oft zerschlagen. Die streikenden Metallarbeiter in Petersburg glaubten im Januar 1905 naiv und sozialromantisch, den Zaren auf ihrer Seite zu haben, nur die Adligen und Beamten seien korrupt. Deshalb wandten sie sich zusammen mit dem Popen Georgi Gapon mit einer Bittschrift zur Linderung ihrer desolaten Lage direkt an ihn und wurden an diesem «blutigen Sonntag» im Januar 1905 vom Militär zusammengeschossen. Laut Lenin gab es mehr als tausend Tote und 2000 Verwundete.

Der Agrarsozialismus der Narodniki
Das Modell der bäuerlichen Umteilungsgemeinde Mir wurde und wird gerne sozialromantisch idealisiert. In diesem Modell gab es keinen Grundbesitz, das bebaubare Land wurde abgesehen von einer Reserve unter den männlichen Mitgliedern verteilt, adlige Rechte galten. Schon die Narodniki oder Volkstümler hatten die bäuerliche Gesellschaft als Keim und Grundlage des Sozialismus betrachtet, die Bauernschaft unter Führung von intellektuellen Volksfreunden als revolutionäre Klasse. Sie waren überzeugt, der Kapitalismus werde sich
in Russland nicht entwickeln und deshalb werde es auch kein Proletariat geben. Auch die Sozialrevolutionäre als Nachfolger der Narodniki wollten von der agrarischen Feudalgesellschaft ohne Umweg über die Indu-strialisierung zum Agrarsozialismus.
Der frühere Volkstümler Georgi Walentinowitsch Plechanow wurde am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss von Marx’ und Engels’ Wirken zum Marxisten. Er schrieb, die Idealisierung der Dorfgemeinschaft sei «in Wahrheit eine bequeme Form zur Verschleierung der Machtstellung der reichen Kulaken und für den Zaris-mus ein billiges Werkzeug zur Eintreibung der Steuern.» Durch die Zersplitterung des Landes und die Verein-zelung der Kleineigentümer seien die Bauern schwieriger zu organisieren. Deswegen müsse das Industrie-proletariat die führende Rolle übernehmen und für Demokratie und Sozialismus kämpfen.

Bauern- und Militäraufstände
Die Niederlage Russlands 1905 im russisch-japanischen Krieg löste Revolten in vielen Teilen Russlands aus, der «Blutige Sonntag» von Petersburg im Januar 1905 führte zur Revolution in Städten und auf dem Land, zu einer Welle von Bauernaufständen sowie politischen und ökonomischen Streiks. Die Bauernbewegung kam
im 130 Millionen Einwohnern zählenden Land zünftig in Schwung. Lenin spricht von 50 bis 100 Millionen revol-tierenden Bauern und einer Gesamtzahl von gut zwei Millionen Streikenden. Er hält weiter fest: «Die Bauern-bewegung erzeugte Sympathie im Heer und führte zu Militäraufständen, zu bewaffneten Kämpfen eines Teils des Heers gegen einen anderen Teil.» Die Sozialdemokraten engagierten sich vor allem in den Fabriken und organisierten die ArbeiterInnen, Schon 1895 hatten sie in Petersburg die etwa zwanzig marxistischen Arbeiter-zirkel zum «Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse» vereinigt. Die Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) war stärker auf dem Land aktiv.

Ernteausfälle, Hungersnöte und Kosakenmassaker
In Saratow an der Wolga im Schwarzerdegürtel gab es eine grosse agrarrevolutionäre Tradition, weil die Gegend durch die grosse Trockenheit sehr anfällig war für Ernteausfälle und Hungersnöte, dazu hatten die «befreiten» Leibeigenen 1861 64 Prozent ihres Nutzlandes verloren. Es war dort, wo Bauern in der Revolution von 1905/06 aktiver waren als in anderen Gebieten. Weit über 1000 Güter von Grundbesitzern wurden damals zerstört, 34 000 so genannte Aufrührer wurden erschossen, 14 000 tödlich verwundet.

Seit 1890 war die PSR in Saratow und in den beiden anderen Schwarzerdegouvernements Tambow und Pensa tätig. Die russische Ärztin und Sozialrevolutionärin Lidija Petrowna Kotschetkowa, verheiratet mit dem Zürcher Arzt und KP-Kantonsrat Fritz Brupbacher, war 1906 in der Stille und Resignation nach der gescheiterten Re-volution im Gouvernement Saratow. Manchmal hatte es in Saratow viele SozialrevolutionärInnen, nach Massa-kern, Verhaftungen und Verbannungen gar keine. Waren Kosaken in der Nähe oder auf Durchreise, war übelste Repression zu befürchten.

Die geraubte Schreibmaschine
Die SozialrevolutionärInnen waren meist allein für ein riesiges Gebiet verantwortlich und hatten kaum Geld zur Verfügung. In der Zeit, als Lidija Petrowna im Landkreis Atkarsk PSR-Chefin war, war sie für 235 Dörfer im Radius von 240 Werst zuständig, in der Parteikasse war fast kein Geld. Die Parteikader sassen im Exil in Lon-don, eine überregionale Organisation und Koordination wie bei den Sozialdemokraten gab es nicht. Diese waren auch aktiv im Gouvernement Saratow, die dortigen Bauern unterstützten aber damals mehrheitlich die PSR, die sozialdemokratischen Bolschewiki erreichten auf dem Land erst im Oktober 1917 grösseren Zuspruch und Mehrheiten in den Bauernräten. «Es war eine schöne seelische Harmonie zwischen den Bauern und den Sozialrevolutionären», schreibt Petrowna 1906 über eine geheime Zusammenkunft in der Natur an Brupbacher. Aus ihrem eigenen Geld kaufte sie Waffen, mit denen die Bauern Gutsbesitzer überfielen, Schuldscheine und andere belastende Dokumente verbrannten und sich nahmen, was sie dringend brauchten – auch eine Schreibmaschine, damit die Petrowna Flugblätter schreiben konnte. Ein Attentat auf den Saratower Gefängnis-chef schlug fehl. Sie beklagte, es sei schwierig, bei den Bauern über einzelne Aktionen hinaus ein Bewusstsein für revolutionäre Veränderungen zu wecken. Trotzdem war durch die Kämpfe der Jahre 1905/06 das revo-lutionäre Bewusstsein auf dem Land gewachsen.

Die Landbevölkerung wehrt sich
Die Stolypinsche Agrarreform vom November 1906 brachte eine Spaltung der kleinen und mittleren Bauern-schaft durch Privatisierungen: Mir-GenossInnen konnten ihre private Parzelle verlangen, Mir-Versammlungen das Land aufteilen, Bauern durften den Grundbesitzern Land abkaufen. Natürlich kam es zu Konflikten zwischen Mir-GenossInnen und ParzellenbesitzerInnen: 1915 wehrten sich Soldatenfrauen im Gouvernement Charkow heftig dagegen, dass Parzellenbauern die Abwesenheit ihrer Männer nutzte, um sich die besten Ländereien zu nehmen.
Doch die Spaltung verhinderte längerfristig den gemeinsamen Kampf nicht. In den bäuerlichen Unruhen nach der Februarrevolution im Frühling und Sommer 1917 eignete sich die Bevölkerung im Gouvernement Woro-nesch Gutshöfe an, weidete ihr Vieh auf Land der Grossgrundbesitzer, erntete deren Felder, Wälder und Heu-wiesen, setzten Pachtzinse herab und bezahlten diese an das zuständige Kreiskomitee. Unter dem Einfluss von Lenin wurde die Arbeit der Bolschewiki auf dem Land verstärkt, die Gründung von Kreis-, Bezirks- und Gouvernementskomitees vorangetrieben. Die Bolschewiki agitierten in Stadt und Land erfolgreich gegen Sozialrevolutionäre, Menschewiki und Anarchisten und erreichten im Oktober 1917 eine Mehrheit im gesamt-russischen Sowjet. Bis zur systematischen Kollektivierung der Landwirtschaft vergingen aber noch mehr als zehn Jahre.

Quellen:
- W. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, Lenin Werke Bd. 23, Berlin 1958
- Redaktionskommission des ZK der KPdSU(B): Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), 1938
- Karin Huser: Eine revolutionäre Ehe in Briefen, Lidija Petrowna und Fritz Brupbacher, Chronos Verlag 2013
- Berthold Krapp: Bauernnot in Russland und Bolschewistische Revolution, Quellenwerk, Klett Verlag

Alle Rechte Text Damian Bugmann 2017


100 Jahre Oktoberrevolution

Aktuell in der vorwärts-verlagsgenossenschaft:

Redaktion vorwärts: 100 Jahre Oktoberrevolution 1917 - 2017, 126 Seiten, 30 Franken
info@damianbugmann.ch

Die Texte und Bilder in diesem Band erschienen im Lauf des Jahres 2017 als Serie in der sozialistischen Zeitung «vorwärts».

Mit Beiträgen von Sabine Hunziker, Manfred Vischer, André Rauber, Hans Heinz Holz, Gerhard Feldbauer, Karl Radek und anderen.
Gestaltung und 15 Grafiken: Christoph Stettler

«Die sozialistische Revolution im Jahr 1917, angeführt von Lenin, hat die Welt verändert. Darüber besteht kein Zweifel. Doch welche Bedeutung hat sie hundert Jahre später in einer im Vergleich zu damals völlig anderen Welt? Welche Lehren und Schlüsse können heute für die Zukunft noch gezogen werden? Oder ganz einfach: Was bleibt von ihr heute? Die Suche nach Antworten, denn es kann unmöglich nur eine geben, ist der rote Faden dieses Buchs.»
(Aus dem Vorwort)


Aus diesem Band:
Mein Text links - «Hochstapelei und Bittschrift, Rebellion und Revolution
»

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